Die ganze Vielfalt des Tanzsports

20.02.2018

Mainpost 20.02.2018

UNTERSPIESHEIM
Die ganze Vielfalt des Tanzsports

 

Sonntag um die Mittagszeit. Es wird langsam etwas unruhig in der DJK-Sporthalle. Auf der Bühne wetteifern gerade die besten Solo-Gardetänzerinnen um Ranglistenpunkte und die Plätze auf dem Treppchen. Da wird gesprungen, was das Zeug hält. Die Beine werden hochgerissen. Räder geschlagen. Sportliche Höchstleistung am Limit. Und dabei das Lächeln nicht vergessen. Auch wenn es weh tut. Unten im Publikum erscheint das derzeit aber nur zweitrangig. Bunte Grüppchen sitzen zusammen. Mädchen in kunterbunten Tanzkostümen, Familienangehörige, Trainer, Betreuer. Es wird geplauscht, gefachsimpelt, gelacht. Da platzt Jörg Barz, dem Juryvorsitzenden, der Kragen. „Wir erleben hier die sieben besten Garde-Solistinnen Deutschlands“, redet er den unruhigen Geistern in der Halle ins Gewissen: „Die Königsdisziplin.“ Da wäre doch wohl ein bisschen Respekt vor der Leistung dieser Tänzerinnen nicht zuviel verlangt. Soll heißen: Ruhig sein. Nicht unbedingt in der ersten Reihe schon das Mittagessen vertilgen. Und ein anerkennender Applaus nach der Darbietung schade nun auch nicht wirklich. Der Rüffel zeigt Wirkung. Es wird spürbar ruhiger. Und so werden die Zuschauer kurz darauf fast ungestört Zeuge, wie sich Nina Zoranovic vom JSK 1888 Rodgau zur alleinigen Königin der Königsdisziplin krönt. 296 von 300 möglichen Punkten hat sie schließlich auf dem Konto, ein Punktrichter gibt sogar die Traumnote 100. Ein Tanz, nah an der Perfektion.
 

Das Gardesolo mag vom Renommee her die Königsdisziplin sein, aber es ist dennoch nur ein Mosaikstein im großen Panoptikum der Tänze, die sich heute unter dem Dach des Deutschen Verbandes für Garde- und Schautanzsport (DVG) vereinen. Da sind zum einen die Urformen des karnevalistischen Tanzsports: Marsch, Polka, dazu Garde-Duo und Garde-Solo. Zackig und geradlinig gehts hier zu, ganz in der militärischen Tradition, welche die Narren einst mit ihren Garden aufs Korn nahmen. Tänzerisches Exerzieren, wenn man so will.

Dazu haben sich längst die Schautänze in ihrer gesamten Bandbreite gesellt. Der Freestyle etwa. Ein Tanz, bei der Fantasie, Poesie und Harmonie breiten Raum einnehmen. Körper, die mit der Musik verschmelzen. „Kunstvolles, experimentelles Tanzen“, beschreibt es der DVG selbst. Dann der Schautanz Modern, der schwer im Kommen ist. Es sind mit die größten Konkurrenzen in allen drei Altersklassen. Modern ist eine Melange aus Jazz-Dance, Ballett und weiteren Tanzstilen. Actiongeladen. Temporeich. Dynamisch.
Tanzen geht im Notfall sogar ohne Musik. Die Dancing Angels aus Gernsheim machen es vor. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Mitten in Michael Jacksons „Thriller“ kommt plötzlich aus den Boxen . . . – Schweigen. Unbeirrt spulen die Tänzerinnen weiter ihr Programm ab, das rhythmische Klatschen des Publikums ersetzt den King of Pop. Nach etwa einer halben Minute bricht die Jury ab.
Verunsicherung bei den Mädchen auf der Bühne. Zunächst soll Raunheim ran, dann dürfen die Gernsheimer noch einmal – von Anfang an. Durchschnaufen, sammeln. Dann wieder von vorne. Aufmunternder Applaus. Diesmal hält die CD durch. Der Lohn der Doppelbelastung:

Ein Punkt Vorsprung vor den Hot Magic aus Wiesentheid, sechs Punkte vor Raunheim – der Sieg im Turnier der ersten Bundesliga. Der Garde- und Schautanz, er ist nach wie vor die Domäne der Mädchen und jungen Frauen. Jungs und Männer wagen sich nur in spärlicher Zahl in diese Sportart.
Am meisten sind sie beim Schautanz mit Hebefiguren anzutreffen. Es ist eine spektakuläre Disziplin, bei der Tänzerinnen schon einmal hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen werden. Da sind starke Männerarme mitunter gefragt. Auch als „Grundsteine“ von spektakulären Menschenpyramiden werden gestandene Mannsbilder gerne genommen. In den Gardedisziplinen ist hingegen nur gelegentlich einmal ein Einzelkämpfer mit in der Gruppe, und im Schautanz sind die Männer auch so rar gesät, dass selbst der RAF-Gründervater Andreas Baader von einer Tänzerin der Raunheimer verkörpert wird.

Aber halt: Es gibt durchaus Männer, die sich sogar solo der weiblichen Konkurrenz stellen. Shawn Gallmon etwa, der sich im Schautanz-Solo der Jugend in der ersten Bundesliga einen vierten Platz ertanzt.
Oder Kevin Ulrich aus Altlußheim, der es in der Hauptklasse als Atlas bei seinem Pas de deux mit der Weltkugel sogar als Dritter auf das Treppchen schafft.
Überhaupt: Die Charakter-Schautänze.
Sie sind eine Welt der Emotion, der Poesie. Ob im Einzel, im Duo oder in der Gruppe. Ob eine befremdliche Welt der Cyborgs, Lady Dianas Tod, RAF-Terroristen im deutschen Herbst, Schizophrenie-Patienten oder Torreros mit ihrem Stier – Es gilt, mit den Beinen Geschichten zu erzählen. Es ist ein wenig wie Eistanz. Nur ohne Eis. Dafür streng reglementiert. Zweimal greift Jury-Chef Barz ein: Nein, es dürfen keine Requisitenteile absichtlich von der Bühne geworfen werden. Die fliegende Plüschratte der „Pestopfer“ aus Künzell – Verboten! Und ja, der tanzende Verein hat die Bühne sauber zu verlassen und von eventuell herumliegenden Requisiten- und Kostümteilen zu reinigen. Sonst droht Punktabzug.

Die ausrichtende Tanzsportabteilung des SV-DJK Unterspiesheim hat das Turnierwochenende wieder bestens gemeistert. Um die 130 Helfer waren dabei im Einsatz, erzählt Stephanie Gottscholl aus dem Unterspiesheimer Trainerstab. Was auch nötig ist, um rund 800 Aktive und Betreuer pro Tag reibungslos durch das Turniergeschehen zu bringen. Grund zur sportlichen Freude hatten die Gastgeber übrigens auch: Ihre Gruppen erreichten in ihren Disziplinen einen ersten, einen zweiten und zwei dritte Plätze.

 

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